Das wahre Verständnis des Sufismus


Zur Zeit des Propheten () lebte ein notorischer Verbrecher. Er hatte die Gewohnheit, nach Einbruch der Dunkelheit auf die Straße zu gehen. Falls er jemanden nachts allein fand, beraubte er ihn. Manchmal schlug er ihn oder tötete ihn und kehrte dann nach Hause zurück. Sie konnten diesen Wegelagerer nicht fassen. Der Prophet (ﷺ) pflegte diesen Straßenräuber zu verfluchen und sagte, er würde niemals für ihn beten oder ihn auf dem Friedhof der Muslime begraben. Aber niemand wusste, wer er war.

Eine der Eigenschaften Allahs (swt) ist as-Sattār, der, der die Mängel und Fehler anderer verschleiert. So wie Er die Sünde des Mannes vom Volke Israel verschleierte, die Allah (swt) veranlasste, den Regen vierzig Tage lang zurückzuhalten, so verschleierte Er auch die Identität des Wegelagerers vor dem Propheten (ﷺ).

Nach vielen Jahren starb der Wegelagerer. Weil der Prophet (ﷺ) ihn verflucht hatte, wurde seine Identität bekannt. Die Kinder schleiften seinen Körper durch die Straßen von Medina und warfen ihn in einen ausgetrockneten Brunnen. Sobald sie ihn in den Brunnen geworfen hatten, informierte Allah (swt) den Propheten (ﷺ), dass einer Seiner Awliyā’ verstorben war. Der Prophet (ﷺ) wurde angewiesen, den Leichnam zu bergen, ihn zu waschen und das Begräbnisgebet für den Leichnam durchzuführen. Der Prophet (ﷺ) war erstaunt. Sein ganzes Leben lang hatte er diese Person verflucht. Nun, da er gestorben war, sagte ihm Allah (swt), dass er ein Walī sei. Niemand hat ein Mitspracherecht im Urteil Allahs (swt), nicht einmal der Prophet (ﷺ). Wenn Allah (swt) will, dass ein Verbrecher ein Walī ist, kann dies niemand in Frage stellen.

Es ist besser, anzunehmen, dass jemand ein Heiliger ist und sich dieser als der schlimmste Sünder entpuppt, als anzunehmen, dass jemand ein Sünder ist und dieser sich als der größte Heilige herausstellt.

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Die Menschen von Taṣawwuf versuchen jeden mit dem Auge der Liebe anzusehen. Zur Kontrolle der Nafs, müssen wir jeden als besser ansehen als uns selbst. Wir wissen nicht, ob Allah (swt) das Maqām dieser Person erhöhen wird. Ein Blick vom Göttlichen und alle Qualitäten sind dieser Person zu eigen.

Die Barmherzigkeit Allahs (swt) ist so groß, dass es uns verboten ist, auf das Äußere zu schauen – auf das, was die Leute tun. Es ist das Schwierigste. Es ist die Erkenntnis, dass wir alle einen Meister haben, der uns richtet. Das Heilmittel besteht darin, uns selbst in Betracht zu ziehen. Damit das so ist, verhalten wir uns mit Höflichkeit (adab) gegenüber Allah (swt) und der Schöpfung. Es steht uns nicht zu, andere zu korrigieren. Es ist nur unsere Aufgabe, uns selbst zu korrigieren. Höflichkeit ist, das Selbst zu korrigieren und alle anderen ihrem Meister zu überlassen. Das ist das wahre Verständnis des Sufismus. Wenn wir uns selbst verändern, haben wir bereits die Welt verändert.

Der Prophet (ﷺ) rief sofort Sayyidinā Abū Bakr aṣ-Ṣiddīq (ra), um ihm zu helfen, diesen göttlichen Befehl zu erfüllen. Sayyidinā Abū Bakr (ra) selbst war auch erstaunt. Aber der Prophet (ﷺ) sagte: „Allah hat mich heute darüber informiert, dass diese Person ein Walī war.“

Der Prophet (ﷺ) stieg in den Brunnen, holte den Körper dieser Person mit seinen eigenen Händen heraus und trug mit Hilfe seiner Ṣaḥābah zu dessen Haus. Er säuberte ihn, wusch ihn, wickelte ihn in ein Leichentuch, betete für ihn und brachte ihn dann von der Moschee zum Friedhof al-Baqīᶜ – 15 Gehminuten entfernt. Der Prophet (ﷺ) benötigte mehr als zwei Stunden, um von der Moschee zum Friedhof zu gelangen. All die Ṣaḥābah waren erstaunt darüber, wie der Prophet (ﷺ) ging. Als er den Verstorbenen zu Grabe trug, ging er auf Zehenspitzen, sehr vorsichtig und sehr langsam.

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O Rasūlullāh“, fragten sie ihn später, „Warum bist du auf Zehenspitzen gegangen?“

Er antwortete: „Allah (swt) hatte alle Awliyā’ von Ost bis West, alle Engel aus den sieben Himmeln und alle spirituellen Wesen aufgefordert, anwesend zu sein und der Bahre dieses Walīs zu folgen. Es waren so viele von ihnen, die den Weg füllten, dass ich keinen Platz fand, meine Füße abzusetzen. Noch nie in meinem Leben war ich so überrascht wie heute.“

Nachdem sie ihn begraben hatten, sprach der Prophet (ﷺ) mit niemandem, kehrte aber schnell in sein Haus zurück, zitternd und schaudernd. Er saß mit Sayyidinā Abū Bakr (ra) zusammen und fragte sich, was der Walī, sein ganzes Leben lang ein Räuber, getan hatte, um einen so hohen Grad an Ehre von Allah (swt) zu verdienen. Der Prophet (ﷺ) wartete auf das Kommen von Jibril (as), um sie über die Angelegenheit zu informieren. Als Jibril (as) kam, stellte der Prophet (ﷺ) fest, dass auch dieser nichts wusste. Der Prophet (ﷺ) ging sofort, mit Sayyidinā Abū Bakr (ra), zum Haus des Verstorbenen, um seine Tochter zu fragen, was ihr Vater in seinem Leben getan habe.

Sie sagte ihm: “O Rasūlullāh, ich schäme mich vor dir. Was soll ich dir sagen? Er war ein Mörder, ein Dieb. Ich habe ihn nie etwas Gutes tun gesehen. Er raubte und stahl Tag und Nacht, mit Ausnahme eines Monats im Jahr. Als dieser Monat kam, sagte er: ‘Dies ist der Monat Allahs’, weil er dich sagen gehört hatte: ‘Rajab ist der Monat Allahs, Shaᶜbān ist der Monat des Propheten und Ramaḍān ist der Monat der Gemeinschaft.’ Also sagte er: ‘Ich interessiere mich nicht für den Monat des Propheten oder den Monat der Gemeinschaft, nur für den Monat meines Herrn.’ Also saß er in seinem Zimmer und führte jedes Jahr in diesem Monat einen Rückzug durch.“

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Der Prophet (ﷺ) fragte sie: „Welche Art von Rückzug hat er gemacht?“ Sie sagte ihm: “O Rasūlullāh, eines Tages war er draußen auf der Straße und suchte jemanden zum Ausrauben. Er fand einen alten Mann. Er schlug ihn bis zur Bewusstlosigkeit und beraubte ihn. Er fand ein kleines Stück gefaltetes Papier in seiner Tasche. Er öffnete sie und fand darin ein Gebet. Er mochte dieses Gebet sehr. Jedes Jahr, wenn der Monat Rajab, der Monat Allahs (swt), kam, saß mein Vater Tag und Nacht da und las dieses Gebet, weinte und las, außer wenn er essen oder die Waschung vollziehen wollte. Nachdem der Monat vorüber war, stand er auf und sagte: ‘Der Monat Gottes ist zu Ende. Nun zu meinem Vergnügen.‘ und kehrte für weitere elf Monate zurück zum Rauben und Stehlen.“

Dieses Bittgebet reinigt uns von unseren Sünden und macht uns so rein wie ein neugeborenes Kind. Als der Prophet (ﷺ) die Tochter bat, ihm das Papier zu bringen, küsste er es und rieb es über seinen Körper. Es wird uns geraten, dieses Bittgebet nicht zu vergessen, sondern es im Monat Rajab zu lesen. Rezitiert es weiter und Allah (swt) wird uns, gemäß unserer Absicht, geben, was Er will.

Allah (swt) sagte dem Propheten (ﷺ): „O mein geliebter Prophet, diese Person kam und bereute vor mir im kostbarsten Monat des Jahres. Aus diesem Grund, weil er zumindest einen Monat des Jahres für mich geopfert hat, habe ich ihm alle seine Fehler vergeben und alle seine Sünden in lobenswerte Taten verwandelt. Da er viele Sünden hatte, hat er jetzt viele Belohnungen.“

Wegen einer Duᶜā’ machte ihn Allah (swt) zu einem Walī, einer Person, die Allah (swt) niemals angebetet hatte, wie er sollte. Die Ṣaḥābah hatten ihn nicht gekannt. Er war weder in der Majlis noch beim Ṣalātu l-Jamᶜīyah bekannt. Aber wir haben einen barmherzigen und liebenden Gott. Zweifeln wir etwa nur einen Moment lang, dass solch ein Gott uns nicht kennt oder unseren Bedürfnissen gegenüber nachlässig ist?

Wa min Allāhi t-Tawfiq. Al-Fātiḥa.

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Überliefert nach einem Vortrag von Shaykh Muḥammad Nāẓim ᶜᾹdil al-Haqqānī

Hier finden Sie das betreffende Bittgebet des Walī ᶜAbbās

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